Die Wachletä Jungfern

Bild: Die Wachletä Jungfern
In den langen Hungerjahren des Schwedenkrieges sass einmal ein Köhler vor seinem Meiler im Wald und überlegte, wohin er entlaufen solle. «Das Dörfchen Magden drunten brennt, wozu da noch Kohlen brennen», meinte er, «so wenig der Steinhügel da zu Gold wird, so wenig wird mich meine saure Arbeit vor dem Verhungern retten.» Während er so redete, klangen auf einmal aus der Tiefe des Hügels, auf dem er sass, sonderbare Töne herauf, und noch hatte er sich nicht recht besonnen, als drei schneeweisse Jungfrauen vor ihm standen oder eigentlich um den Kohlenhaufen herumschwebten, ohne dass ein schwarzes Stäubchen an ihren prächtigen Mänteln hängen blieb. Sie hatten Blumen in den Haaren und goldene Stäbchen in der Hand. Die eine deutete damit auf die Spitze des Felsens, und sogleich öffnete sich dieser sanft zu einem grossen Gang. Da hinab führten sie den Kohlenbrenner in einen weiten Saal mit goldener Wand und boten ihm den Schlüssel an, mit dem er die Schatztruhen, die ringsumher standen, öffnen sollte.
Der arme Mann wusste nicht, wie ihm geschah; halb aus herzlicher Verwunderung, halb aus christlicher Seelenangst fing er an zu schreien: «Alle guten Geister...!» und im Hui fühlte er sich nach oben gewirbelt und in die Sonne hinausgeworfen, unter die alten Eichen des Hügels, während ein bitteres Jammern und Wehklagen aus dem Boden erscholl. Diese Waldgegend heisst noch heute der Jungferngraben, und noch hört man dort singende Mädchen, aber auch Hundegebell und Pferdegewieher. Andere Erzähler versetzen den Schauplatz der Begebenheiten in die Gegend des Dorfbannes Magden, welche man Wachletä nennt. Auf der Hochebene gegenüber dem Steinbruch des Dorfes, welche sich bis nach Augst hinunter erstreckt, zieht sich eine muldenartige Vertiefung fort, wo früher zwischen Saarweiden die Wachteln gerne hausten. Hier lebten die singenden Wachletä-Jungfern, und auf dieser Höhe soll auch unser Kohlenbrenner gelebt haben. Eines Nachts lag er schlaflos auf seinem Laubsack. Eben hatte es vom Kirchturm eins geschlagen, da fing es draussen vor seinem Fenster zu niesen an. «HeIf dir Gott», sprach er. «Helf dir Gott!» und so sagte er wohl dreissigmal, ohne dass das Niesen draussen aufhörte. «Hilft dir Gott nicht», rief er zuletzt unwillig, «so soll's der Teufel!» Da hörte es auf. Aber nun erfüllte Donnern und Krachen, Tosen und Schnauben den Wald bis am Morgen. Als sich nun der Mann in der Frühe schlaftrunken vor das Haus machte, staunte er nicht wenig, denn sein ganzer Meiler war bis auf einen Korb Kohlen in den Erdboden versunken. An der Stelle aber sprudelte munter eine reichliche Quelle hervor. Wäre er kein Narr gewesen, so hätte er den Korb Kohlen hübsch ins Haus hineingetragen; so aber warf er ihn voller Zorn ins Wasser.
Die Quelle fliesst heute noch, aber kein Mensch würde davon trinken, denn der mächtigste Kropf würde alsbald seinen Hals schmücken. Die Kohlen stammten von den Jungfrauen und wären zu Gold geworden, wenn sie der Köhler behalten hätte. Seither verschwanden sie. Mit ihnen ist auch der Esel verschwunden, der nichts frass und doch alle Morgen einen Korb voll Goldstücke legte. Später kam einmal ein junger Mann um Mittemacht durch diese Gegend. Er sollte in aller Eile den Arzt in Rheinfelden holen, denn sein Vater war schwer krank. Am grossen Steinbruch wünschten ihm drei Mädchen gute Nacht, und als er, trotz seiner Atemlosigkeit, freundlich darauf dankte, schwebten sie wie Vögel über den Talbach dem Waldberge zu. Der kranke Vater aber war bei seiner Heimkehr schon wieder gesund. Als einige Zeit später ein Bauer mit seinem vierjährigen Söhnlein hier vorbeiging, kam ihm beim Steinbruch plötzlich sein Kind aus den Augen. Auf sein wiederholtes Rufen gab es ihm endlich weit drüben vom Bach her Antwort, und als er dorthin eilte, sah er, wie sein Büblein bereits Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte, um durchs Wasser hinüberzuwaten. «Was machst du denn? Wohin denn?» fragte der Vater. «Ich kann nicht anders», erwiderte das Kind, «die weisse Frau hat mir gewunken, ich muss ihr nach». Jetzt erinnerte sich der Bauer wieder der unheimlichen Dinge, die er von dieser Gegend im Dorfe gehört hatte. Er fasste das Kind bei der Hand und eilte heimzu.